116. Deutscher Ärztetag wendet sich gegen die Ökonomisierung ärztlichen Handelns
HANNOVER - Der 116. Deutsche Ärztetag macht die Ankündigung vom Vorjahr wahr und liefert rechtzeitig vor den Neuwahlen zum Bundestag ein eigenes Konzept zur Finanzreform der medizinischen Versorgung.
Die in der niedersächsischen Landeshauptstadt zur Debatte stehende Vorlage des BÄK-Vorstands hat sechs Punkte:
- Die private und die gesetzliche Krankenversicherung sollen beide erhalten bleiben. Ein klares Bekenntnis zum Erhalt der Dualität unserer Krankenversicherung.
- Die Krankenkassen sollen von ihren Versicherten einen festen, einkommensunabhängigen Gesundheitsbeitrag erheben, den sie selbst und unabhängig von gesetzlichen Vorgaben festlegen.
- Ab einer Belastungsgrenze von maximal 9% des gesamten Haushaltseinkommens soll ein Solidarausgleich aus den Mitteln des Gesundheitsfonds einsetzen.
- Der Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung wird auf 7,3% langfristig festgelegt.
- Der Gesundheitsfonds wird umstrukturiert: In ihn hinein fließen die Arbeitgeberbeiträge, Mittel aus der Rentenversicherung und Steuermittel für den Solidarausgleich. Der Gesundheitsfonds finanziert den Sozialausgleich sowie die Kinder- und Familienmitversicherung.
- Für jedes in Deutschland geborene Kind soll ein Gesundheitskonto eingerichtet werden, auf das aus Steuermitteln eine "portable Grundausstattung" gespart wird, die zur Verfügung stehen soll, so bald es eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnimmt.
Zum Auftakt probten Bundesärztekammer-Präsident Prof. Frank U. Montgomery und Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr den Schulterschluss. "Der gegenwärtige Zustand der Krankenversicherung – gesetzlich wie privat – ist eigentlich gut. Die Geldspeicher sind voll. Es herrscht also überhaupt keine Not, das System von den Füßen auf den Kopf zu stellen", unterstrich Montgomery im bis auf den letzten Platz gefüllten Kuppelsaal des Kongresszentrums Hannover. Vorrangig sei jetzt eine Stärkung des bestehenden Systems, das unstreitig das am besten funktionierende der Welt sei.
"Ich will keine Einheitsversorgung für den Einheitsversicherten durch eine Einheitskasse", brachte Bahr seine ordnungspolitische Maxime auf den Punkt. Beide Systeme könnten voneinander lernen. Für die GKV bedeute dies einen weiteren Ausbau der Zusatzbeiträge und einen höheren Eigenanteil bei der Vorsorge. "Was bei der Rente für richtig erkannt wurde, kann doch bei der Gesundheit und der Pflege nicht falsch sein", so der Minister.
Zugleich plädierte Bahr dafür, der privaten Krankenversicherung eine Chance zur Weiterentwicklung zu geben. Nahezu zeitgleich teilte die Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht in Berlin mit, dass 18 von 48 privaten Krankenversicherern ihre Beitragssätze über kurz oder lang unter dem Druck der niedrigen Ertragszinsen auf Kapitalanlagen weiter erhöhen müssen. Darauf nahm Bahr indirekt Bezug mit dem Hinweis, dass die PKV erstmals in ihrer Geschichte in finanziellen Schwierigkeiten stecke, wohingegen der Deutsche Bundestag in den vergangenen Jahren für die GKV immer wieder neue Rettungsgesetze habe auflegen müssen.
Bahr bekam im Plenum viel demonstrativen Applaus. Unmut kam nur an einer Stelle auf, als Bahr das Patientenrechtegesetz in seiner Bilanz schwarz-gelber Gesundheitspolitik als einen Beitrag zur Stärkung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient verbuchte.
"Wir arbeiten hervorragend zusammen", lobte Bundesärztekammer-Präsident Montgomery den Bundesgesundheitsminister und wünschte ihm, dass er auch nach der Bundestagswahl im Amt bleibt. Eine gute Zusammenarbeit mit dem Ministerium wird auch nötig sein, wenn es gilt, den Stillstand bei der Weiterentwicklung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) zu beenden. "Die kumulierte Inflationsrate für den Punktwert seit der letzten Anhebung beträgt inzwischen über 30%", machte Montgomery die Dimensionen deutlich, die zur Debatte stehen.
Nach wie vor hofft der Bundesärztekammer-Präsident darauf, dass die laufenden Verhandlungen mit dem PKV-Verband in eine gemeinsame Vorlage münden, die dem Bundesgesundheitsministerium zur Genehmigung übermittelt werden soll. Der Stand der Beratungen ist im Juni Gegenstand einer Klausurtagung des Bundesärztekammer-Vorstands. In dieser Legislaturperiode werde es allerdings keine neue rechtsverbindliche GOÄ mehr geben.
Kritisch setzte sich der 116. Deutsche Ärztetag vom Start weg mit der Kommerzialisierung des Arztberufs auseinander. "Die Ökonomisierung im Gesundheitswesen schreitet ungebrochen voran", bemertet Montgomery in seinem Bericht zur Lage und zitierte den amerikanischen Philosophen Michael J. Sandle: „Während der letzten Jahrzehnte haben Märkte und marktkonformes Denken auf Lebensbereiche übergegriffen, die üblicherweise von marktfremden Normen beherrscht waren. Immer häufiger versehen wir heutzutage nichtökonomische Güter mit einem Preis.“ Daraus werde ein gefährlicher Trend, so Montgomery. Dieser „Trend“ werde derart verinnerlicht, dass auch Ärzte ständig gegen die Versuchung kämpfen müssen, primär in ökonomischen Dimensionen zu denken. Ökonomie dürfe immer nur Mittel zum Zweck sein, nicht aber Selbstzweck.
"Gerade im extrem durchregulierten ambulanten Bereich findet eine Entwertung der ärztlichen Qualifikation statt", konstatierte in der anschließenden ersten Sitzung des Ärztetag-Parlaments des Freiburger Medizinethikers Giovanni Maio. "immer mehr etabliert sich dann ein Verständnis von Medizin, das reduziert wird auf eine Einhaltung von Protokollen, Ablaufplänen und einer Fülle an Dokumentationen und Leistungsnachweisen – und Kontrollen. All das, was nicht gemessen werden kann, fällt aus dem Raster der Bewertung heraus. Und kontrolliert wird nur das Messbare", so der Problemaufriss.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (links im Gespräch mit
Bundesärztekammer-Präsident Prof. Frank U. Montgomery und Hannovers
Bürgermeister Bernd Strauch) unterstützt aus Landessicht zentrale Anliegen
des Deutschen Ärztetages. ( Foto: Blu)
Unerwartete Unterstützung erhielt der Ärztetag in dieser kritischen Attitüde vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD), der sich gegen eine übertriebene Kostenorientierung der Gesundheitspolitik wandte. Der neue Hoffnungsträger der Sozialdemokratie im Norden nutzte das öffentliche Forum, auf die schwierige Finanzlage der Universitätskliniken und die Versorgungs-probleme eines Flächenlandes im ländlichen Raum hinzuweisen. Zugleich machte Weil sich aus persönlicher Gesprächserfahrung zum Sprachrohr der Ärzte gegen überzogene Dokumentations-anforderungen, die er als "Zeitfresser" und "Motivationsbremse" geradezu abkanzelte.
Mehr vom 116. Deutschen Ärztetag in Hannover – dann auch von der Entscheidung zu einer Pflichtweiterbildungszeit in der ambulanten Versorgung – in der Juli-Ausgabe der Verbandszeitschrift DER DEUTSCHE DERMATOLOGE.