Gesundheitspolitische Ziele im Kreuzfeuer der Kritik
BERLIN - Die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP zur Gesundheitspolitik haben ein breites, höchst unterschiedliches Echo ausgelöst. Hier die wichtigsten gesundheitspolitischen Positionen und ein erster Querschnitt des politischen Echos auf den Koalitionsvertrag.
Die Gemeinschaft Fachärztlicher Berufsverbände (GFB) zeigt sich in einer ersten Stellungnahme zu den Ergebnissen der Koalitionsverhandlung enttäuscht von den Ergebnissen. „In einem zentralen Punkt der Gesundheitspolitik hat die neue Regierungskoalition Mutlosigkeit und Inkonsequenz bewiesen“, erklärte GFB-Präsident Dr. Herbert Menzel in einer Pressemitteilung. Man könne nur hoffen, dass dieser Sachverhalt nicht zu einem Fehlstart führt!
Obwohl alle gesundheitspolitischen Akteure vor einer Veränderung des § 73b SGB V gewarnt hatten, sei die alte Bundesregierung unter Beteiligung der CDU/CSU dem Hausärzteverband gefolgt und habe ein Verbandsmonopol geschaffen, das die Ärzteschaft weiter spalten werde.
„Statt die Chance zu nutzen, den § 73b wieder zu verändern und damit einen konsequenten Neubeginn zu signalisieren, hat sich Schwarz-Gelb auf eine Beobachtungsphase geeinigt, die schlimmste Form der Unentschlossenheit, die möglicherweise auch einem übergroßen Einfluss der CSU geschuldet ist“, beklagt Menzel.
Man könne nur hoffen, dass die Krankenkassen die Risiken solcher Vertragsabschlüsse richtig bewerten. Die GFB fordert die neue Bundesregierung nachdrücklich dazu auf, am § 73b SGB V „Veränderungen in Angriff zu nehmen, bevor der Kredit in die Gestaltungskraft der neuen Regierung verspielt ist“.
Von einem „Schwarzen Tag für die Versicherten“ sprach die Hautärztin und SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Marlies Volkmer nach Bekanntwerden von Einzelheiten des Koalitionsvertrags. Mit der Rückkkehr zur Kopfpauschale als Grundlage der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sei es amtlich: „Frau Merkel hat sich in den letzten vier Jahren nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Sie wollte die Kopfpauschale schon 2005 einführen - und hat sich in der großen Koalition an der SPD die Zähne ausgebissen.“
Nun könne sie im Bündnis mit dem „Totengräber der gesetzlichen Krankenversicherung“, der FDP, der Solidarität den Garaus machen – allerdings erst nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen.
Zurückhaltender äußerte sich Bundesärztekammer-Präsident Prof. Jörg-Dietrich Hoppe: „Der Entwurf für einen Koalitionsvertrag bietet die Chance, eine neue Gesundheitskultur in Deutschland aufzubauen. Wenn der Versicherte wieder zum Patienten wird und Ärzte wieder Ärzte sein können, dann ist der richtige Kurs eingeschlagen."
Entbürokratisierung und keine weitere Kommerzialisierung des Gesundheitswesens habe sich die neue Regierung zum Ziel gesetzt, das sei richtig und wichtig, damit aus einem überbürokratisierten Gesundheitssystem wieder ein humanes Gesundheitswesen wird.
Der Entwurf für einen Koalitionsvertrag verspreche, die medizinischen Versorgungsstrukturen auf eine Gesellschaft des langen Lebens hin auszurichten. Das lasse hoffen, dass Gesundheitspolitik nicht länger Einsparpolitik medizinischer Leistungen bleiben wird, sondern dass medizinischer Fortschritt und demographische Entwicklung als Realitäten anerkannt werden.
Hoppe forderte: "Den Worten müssen nun allerdings auch Taten folgen. Die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sind bereit, in diesem Sinne an der Ausgestaltung des Gesundheitswesens mitzuwirken.“
Und hier ein Überblick über die gesundheitspolitischen Ziele der neuen Regierunsgkoalition in Ausschnitten aus dem Koalitionsvertrag:
Das Gesundheitswesen ist gerade in einer älter werdenden Gesellschaft die Zukunftsbranche mit bereits jetzt über 4 Millionen Beschäftigten. Es ist der Bereich mit der höchsten Innovationsrate und einem geradezu explosionsartig zunehmen den Wissen. Wir wollen den Rahmen so setzen, dass sich der Wettbewerb der Ideen im ständigen Bemühen um eine Verbesserung der Qualität der Versorgung entfalten kann.
Prävention zielgerichtet gestalten
Prävention ist ein wichtiger Baustein für ein gesundes Leben und für unsere Gesellschaft. Sie muss zu allererst bei Kindern und Jugendlichen ansetzen. Prävention kann dabei helfen, künftige Belastungen der Sozialsysteme zu verringern. Zielgruppenspezifische Aufklärung soll dazu beitragen, Eigenverantwortlichkeit und Gesundheitsbewusstsein zu stärken. Unsere Präventionsstrategie wird Vorhandenes bewerten und aufeinander abstimmen, nationale und internationale Erfahrungen und Erkenntnisse analysieren sowie auf bewährten Programmen und Strukturen aufbauen, diese weiterentwickeln und sie in die Fläche bringen. Dazu bedarf es einer klaren Aufgaben- und Finanzverteilung unter Berücksichtigung und Stärkung der vorhandenen Strukturen.
Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes
Wir wollen, dass auch in Zukunft alle Menschen in Deutschland unabhängig von Einkommen, Alter, sozialer Herkunft und gesundheitlichem Risiko weiterhin die notwendige medizinische Versorgung qualitativ hochwertig und wohnortnah erhalten und alle am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Aufgrund des medizinischen und medizinisch-technischen Fortschritts und des demographischen Wandels müssen Struktur, Organisation und Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung angepasst werden.
Dabei darf keine Generation über Gebühr belastet werden.
Wettbewerb der Krankenversicherungen wirkt als ordnendes Prinzip mit den Zielen der Vielfalt, der Effizienz und der Qualität der Versorgung. Wir wollen, dass die Krankenversicherungen genügend Spielraum erhalten, um im Wettbewerb gute Verträge gestalten zu können und regionalen Besonderheiten gerecht zu werden. die Einheitskasse und ein staatlich zentralistisches Gesundheitssystem sind der falsche Weg, um die zukünftigen Herausforderungen bürgernah zu bewältigen. Die Finanzierbarkeit muss auch mittel- und langfristig gewährleistet sein.
Der Gesundheitsmarkt ist der wichtigste Wachstums- und Beschäftigungssektor in Deutschland. Beitrag und Leistung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen. Es braucht zudem Anreize für kosten- und gesundheitsbewusstes Verhalten. Die Versicherten sollen auf der Basis des bestehenden Leistungskatalogs soweit wie möglich ihren Krankenversicherungsschutz selbst gestalten können.
Wir wollen einen Einstieg in ein gerechteres, transparenteres Finanzierungssystem. Der Morbi-RSA wird auf das notwendige Maß reduziert, vereinfacht sowie unbürokratisch und unanfällig für Manipulationen gestaltet. Die derzeitige Situation ist gekennzeichnet durch ein prognostiziertes Defizit, das sich sowohl aus krisenbedingten Beitragsausfällen als auch gesundheitssystemimmanenten Ausgabensteigerungen (Demographie, Innovationskosten, Fehlwirkungen) zusammensetzt. Kurzfristige Maßnahmen umfassen 2 Komponenten:
- Krisenbedingte Einnahmeausfälle dürfen nicht alleine den Versicherten aufgebürdet werden, deshalb werden gesamtstaatliche flankierende Maßnahmen zur Überbrückung der Krise erfolgen.
- Unnötige Ausgaben sind zu vermeiden.
Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überführt in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden. Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest. Zu Beginn der Legislaturperiode wird eine Regierungskommission eingesetzt, die die notwendigen Schritte dazu festlegt.
Wettbewerb im Krankenversicherungswesen
Neben der gesetzlichen Krankenversicherung sind für uns die privaten Krankenversicherungen als Voll- und Zusatzversicherung ein konstitutives Element in einem freiheitlichen Gesundheitswesen. Wir werden bei den Wahltarifen der gesetzlichen Krankenversicherung die Abgrenzung zwischen diesen beiden Versicherungssäulen klarer ausgestalten und die Möglichkeiten ihrer Zusammenarbeit beim Angebot von Wahl- und Zusatzleistungen erweitern.
Wir werden die Entwicklung im Basistarif der privaten Krankenversicherung beobachten. Das Verhältnis von reduzierten Beiträgen im Basistarif aufgrund von Hilfebedürftigkeit und dem Abschluss privater Zusatzversicherungen wird überprüft. Ein Wechsel in die private Krankenversicherung wird zukünftig wieder nach einmaligem Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze möglich sein.
Hochwertige und innovative Arzneimittelversorgung für Deutschland
Die flächendeckende und sichere Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln hat für uns hohe Priorität. Die freiberuflichen Apothekerinnen und Apotheker spielen für eine gute Arzneimittelversorgung eine zentrale und wichtige Rolle. Eine Änderung des bestehenden Mehr- und Fremdbesitzverbotes lehnen wir deshalb ab. Wir werden die Auswüchse beim Versandhandel bekämpfen, indem wir die Abgabe von Arzneimitteln in den sogenannten Pick-up-Stellen verbieten. Die Vielzahl der sich zum Teil widersprechenden Instrumente, die den Arzneimittelmarkt regeln, werden wir überprüfen.
Die Überregulierung wird abgebaut. Der Arzneimittelmarkt wird unter patienten-, mittelstandsfreundlichen und wettbewerblichen Kriterien effizient neu geordnet. Kosten-Nutzen-Bewertungen müssen praktikabel nach klaren, eindeutigen Kriterien erfolgen.
Die Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) werden wir auch unter dem Gesichtspunkt stringenter, transparenter Verfahren überprüfen und damit die Akzeptanz von Entscheidungen für Patienten und Patienten, Leistungserbringer und Hersteller verbessern. Dabei werden wir die Betroffenen frühzeitig beteiligen.
Vielfalt und Wettbewerb in der Versorgung
Wettbewerb um Leistungen, Preise und Qualität ermöglicht eine an den Bedürfnissen der Versicherten ausgerichtete Krankenversicherung sowie eine gute medizinische Versorgung. Auf der Versicherungs-, Nachfrage- und Angebotsseite werden die Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Wettbewerb um innovative und effiziente Lösungen geschaffen, der den Versicherten und Patienten zugute kommt, sie in den Mittelpunkt stellt und ihnen Entscheidungsspielräume ermöglicht.
Wir wollen, dass das allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung findet. Insbesondere bei Rabattverträgen, Fusionen von Krankenhäusern und Krankenkassen sehen wir Überprüfungsbedarf. Dazu gehört auch die Überprüfung des Rechtswegs.
Ärztliche Versorgung und freier Arztberuf
Die Freiberuflichkeit der ärztlichen Tätigkeit ist ein tragendes Prinzip unsere Gesundheitsversorgung und sichert die Therapiefreiheit. Die freie Arztwahl durch die Patientinnen und Patienten ist dabei Ausdruck eines freiheitlichen Gesundheitswesens und die Basis für das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin und Arzt und Patientin und Patient. Diese Struktur der ambulanten Versorgung wollen wir aufrechterhalten. Die Besonderheiten einer wohnortnahen Versorgung in ländlichen Bereichen werden dabei Berücksichtigung finden.
Medizinische Versorgungszentren (MVZ) sollen nur unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden. Geschäftsanteile können nur von zugelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie Krankenhäusern gehalten werden. Wesentlich ist dabei vor allem, dass die Mehrheit der Geschäftsanteile und Stimmrechte Ärztinnen und Ärzten zusteht und das MVZ von Ärztinnen und Ärzten verantwortlich geführt wird. Für den Bereich unterversorgter Gebiete soll eine Öffnungsklausel für Krankenhäuser vorgesehen werden, wenn keine Interessenten aus dem Bereich der Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung stehen.
Die Ärztinnen und Ärzte brauchen einen gesicherten Rahmen für ihre Arbeit. Eine Grundvoraussetzung ist ein einfaches, verständliches Vergütungssystem, das die Leistungen adäquat abbildet. Dabei werden regionale Besonderheiten Berücksichtigung finden.
Nach kritischer Überprüfung wird die Honorarreform unter dieser Zielsetzung zusammen mit den Beteiligten den erforderlichen Kurskorrekturen unterzogen. Wir wollen die Transparenz für Ärztinnen und Ärzte sowie Versicherte erhöhen. Deshalb wollen wir die Möglichkeiten der Kostenerstattung ausweiten. Es dürfen dem Versicherten durch die Wahl der Kostenerstattung keine zusätzlichen Kosten entstehen.
Die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) wird an den aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst. Dabei sind Kostenentwicklungen zu berücksichtigen. Angesichts der vielfältigen Steuerungsinstrumente werden wir überprüfen, ob weiterhin eine Notwendigkeit für Richtgrößen für ärztliche Verordnungen besteht.
Wir wollen die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches Erhebungsverfahren überführen. Wir werden nach drei Jahren feststellen, wie viele Hausarztverträge deutschlandweit abgeschlossen worden sind.
Flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung
Die Sicherstellung der flächendeckenden und bedarfsgerechten medizinischen Versorgung ist uns ein zentrales gesundheitspolitisches Anliegen, das im Hinblick auf die demographische und gesellschaftliche Entwicklung noch an Bedeutung gewinnt.
Der in manchen Regionen sich abzeichnenden Unterversorgung durch Ärztemangel und zunehmend längeren Wartezeiten muss wirksam begegnet werden. Dazu werden wir die Voraussetzungen schaffen, damit die Gemeinsame Selbstverwaltung die Bedarfsplanung zielgerichtet weiter entwickeln kann. Um der gemeinsamen Verantwortung für regionale Bedürfnisse und Strukturen besser gerecht zu werden, wollen wir fachliche Einwirkungsmöglichkeiten für die Länder prüfen.
Dem in den nächsten Jahren drohenden Ärztemangel ist durch Abbau von Bürokratie und eine leistungsgerechte Vergütung wirksam auch durch folgende Maßnahmen zu begegnen:
- gezielte Nachwuchsgewinnung und Förderung von Medizinstudierenden und Stärkung der Allgemeinmedizin in der Ausbildung,
- Ausbau der Anreize und Mobilitätshilfen bei der Niederlassung von Ärztinnen und Ärzten in unterversorgten Gebieten und
- Erweiterung der Delegationsmöglichkeiten ärztlicher und anderer Tätigkeiten zur Entlastung von Ärztinnen und Ärzten.